Kommentar zu “abseits der wunder”
Veronika Seyr
Conny Hannes Meyer
abseits der wunder. Ein Gedicht
Es muss etwas passiert sein, etwas Schreckliches, eine Katastrophe. Die Welt ist zerstört und unbehaust, ein Schlachthof, die Menschen sind unmenschlich, der Abschaum quillt aus allen Rattenlöchern, die Sonne ist gefesselt, der Himmel vergittert und flirrend vor Fleischfliegen. Ein Mensch wandert durch diesen Trümmerhaufen und schleudert seinen stummen Hass gegen die verschlossenen Türen. Das hohle Tock-Tock des Heimkehrers, des Einbeinsoldaten mit Krückstock schallt durch die versifften Hinterhöfe. Da kehrt einer zurück aus der Apokalypse in eine unerträgliche Gegenwart. Das große Morden ist gerade erst vorüber. Er ist jung und voll Hass auf alles Althergebrachte. Dieses Ich ist aber keineswegs stumm, wie es von sich behauptet, sondern wortgewaltig, wortgewalttätig.
Friedlich hinter bunten butzenscheiben
niedlichen wachsfigurenkrippen
bauernkrügen steinmadonnen elfenbeinkönigen
eisernen streitkolben leiderpeitschen reiterpistolen
krummschwertern brustpanzern kettenringhemden dolchen (…)
grünspanige totschlägerorden metzgermedaillen
mordauszeichnungen mit staatswappen
die deckt kein seidenfächer zu
keine gesangsvereinsfahne
zinnerne würfelbecher damenkämme aus japan und zigeunerketten (…)
auf grünem biedermeierstuhl steht steif
die abschiedsbriefkassette
im sanften holztruhmoder weihrauchruch verrostet
und das habt ihr uns hinterlassen
zinnsoldaten und massenmord
negerpuppen und rassenhass (.)
So sieht die Welt des Heimkehrers aus. Aber anders als der Borchardt`sche Beckmann hadert er nicht mit der Welt und mit Gott, sondern nennt die Schuldigen beim Namen, nennt die, die in die Katastrophe geführt haben und danach nichts davon wissen wollen, nichts einsehen und nicht bereuen, weitermachen und so tun, als wäre nichts geschehen. Anders als Beckmann, den sogar das Wasser, in das er geht, wieder ausspuckt (Gott will seinen Selbstmord nicht annehmen), den seine frühere Geliebte vor die Tür setzt (ein Einbeiniger ist kein Mann), wehleidig und jammernd nicht in die Gesellschaft zurück findet, will der Rückkehrer des Gedichts einen Neuanfang mit Kehraus, setzt seine Jugend, seine Kraft und seinen Erkenntniswillen gegen die ressentimentgeladene und weinselige Nachkriegsbarbarei. Er will sein Leben in die Hand nehmen; Lehrlingsausbildung und Studium sind dem elternlosen Nobody verschlossen, er versucht sich als Bauhilfsarbeiter, Textilvertreter, Konsumneuling, Politadept, Armeerekrut. Wegzugehen aus diesem Land, weit weg, irgendwohin auch nur eine Flucht, erkennt er trotz aller Versuchungen, die feig sind, wie die der Alten, nicht an. ER ist anders, er kommt von anderswo her und hat andere Erfahrungen. Er durchschaut die Scheinwelten- und Alternativen und rettet sein kleines Leben in die Phantasie, ins Kino, ins Tanz- und Rausch- und Sportvergnügen. Es wird ihm klar, dass er da überall fehl am Platz ist.
bleibe allein
alle lachen ich lache mit
aber ich bin nicht froh
alle singen ich singe mit
aber es klingt nicht richtig (…)
gummiwülste auf der zunge
so geh ich zurück
weiß
jetzt habe ich mich entschieden
entschieden
statt zu jammern zu handeln (…)
ab heute will ich misstrauisch sein
fragen und lernen wie nie (.)
Der Heimkehrer ist noch nicht angekommen, aber er hat ein Ziel gefunden
eine Zeit kommt
mit kammerkonzerten wilden fragen und gebeugtsein über bücher
voll wissenwollen bildgalerien
taumelnde farben formen ernste gespräche
und das irdische paradies findet noch nicht statt (…)
und keine fahne wird aufgezogen
keine jubelhymne angestimmt aber
die dummheit wird zum todfeind erklärt und
die unwissenheit zur schande (…)
dass die asche der ermodeten verbrannten nicht schreit
und die gekreuzigten nicht immer wieder
immer wieder an das kreuz geschlagen werden
der bombenangstflut wird ein damm gesetzt
und dem schicksal ein denkmal:
hier ruht es
denn wir
wir sind an seine stelle getreten (.)
Das 57 Seiten-Gedicht ist ein langer, großer, wilder Aufschrei, Trommelwirbel, Marschgedröhn mit der Tock – Tock – Untermalung des Einbeinigen und der kratzenden Geige des ausgehungerten Hinterhofsängers, sich überstürzende Wort- und Bildexplosionen, eine Symphonie von Feuerwerksraketen, Kaskaden von verräterischen Kleinbürger – Accessoires in tollkühner Zusammenstellung – das Heimkehrer-Ich registriert alles und zertrümmert alles, voll Hass und Abscheu, aber ohne jemals den Wunsch nach einer anderen, besseren Welt aus den Augen zu verlieren mit einem angemessenen Platz darin für sich selbst, bis er ihn gefunden glaubt – im Lernen, Kennenlernen und Nichtvergessen. Dieser Platz wird für den Rest des Lebens das Theater sein. Das ist der Ort, „wo er mitlacht und singt und alles richtig klingen wird.“
Der Entwicklungsroman ist schon lange als Genre eingeführt, ein „Entwicklungsgedicht“, der Werdegang eines Ich in Gedichtform – zumindest für einen frühen Lebensabschnitt – ein modernes Wagnis, das C.H. Meyer gelungen ist. Mit schonungsloser Offenlegung des eigenen Ichs in der brutalen Nachkriegs- und Wiederaufbaugesellschaft. Übertragbar aber auf jede Epoche, in der die nachstürmende Jugend etwas Neues will, ihren Platz sucht und den alten Moder zerreißt.